Warum Daten nicht alles sind: die avesco Methodik

Interview mit Dr. Sandra Derissen – Head of Sustainability Analysis SHC-Fonds

Nachhaltige Fonds, Nachhaltigkeitsrisiken und avescos proprietäre Nachhaltigkeitsmethode waren unter anderem Thema bei der IX. Donner & Reuschel Asset Manager Presentation. Warum es sich lohnt, nicht nur auf einzelne Datenpunkte zu schauen, sondern sie in Beziehung zu setzen, erklärt Dr. Sandra Derissen, Head of Sustainability Analysis SHC-Fonds.

Dr. Derissen, mit dem Sustainable Hidden Champions Equity Fonds (SHC-Fonds) haben Sie den Anspruch, einen echten nachhaltigen Fonds im Angebot zu haben. Warum gestaltet sich die Umsetzung im Tagesgeschäft so schwierig bzw. ist das Narrativ „Nachhaltigkeit“ tatsächlich so schwierig?

Der Bereich Nachhaltigkeit war lange Zeit überhaupt nicht definiert. Insofern war es für uns auch eine sehr große Herausforderung überhaupt die Methodik zu entwickeln. Wir haben u. a. mit Universitäten zusammengearbeitet. Wir haben eine qualitative Methodik entwickelt, auf die ich später nochmal zu sprechen komme.

Das Verständnis oder auch Narrativ von Nachhaltigkeit hat sich in den letzten Jahren komplett gewandelt. Und für uns ist jetzt die Herausforderung (aber auch der Anspruch), sowohl

  • den Kund:innenwünschen gerecht zu werden
  • wie auch der Regulatorik,
  • als auch unserem eigenen ethischen Kompass, den wir aus großer Überzeugung

entwickelt haben. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns täglich und versuchen in diesen Bereichen immer das bestmögliche Argument zu finden. Und das bedarf einer guten Diskussions- und Diskurskultur, die ich zum Glück bei avesco und in meinem Team habe. Konkret bedeutet das, dass wir auch täglich im Monitoring sind und analysieren: Wie geht es den Unternehmen? Gibt es Kontroversen? Und wie entscheiden wir auf Einzelfallbasis?

Nachhaltigkeitsrisiken werden häufig nur durch die Abfrage von Ausschlusskriterien berücksichtigt – aber reicht das auch aus, beziehungsweise ist das überhaupt zulässig?

Vielleicht vorab: Nachhaltigkeitsrisiken sind erst einmal nur Risiken, die auf die Unternehmen treffen. Das heißt Ausschlusskriterien würde ich jetzt eher so interpretieren, dass diese die Auswirkungen des Unternehmens auf Umwelt und Soziales minimieren sollen, also im Sinne der doppelten Materialität. Bei Ausschlüssen geht es also darum Unternehmen rauszufiltern, die besonders schlecht auf Umwelt und Soziales wirken. Sie hatten gefragt ob das zulässig ist: Ja, auf jeden Fall.

Ich finde jede:r Anleger:in sollte eigentlich in ein Beratungsgespräch gehen und sich vorher schon überlegt haben, welche Branchen sollen nicht investiert werden, was soll nicht im Portfolio sein. Ob das ausreichend ist? Das müssen wir differenziert betrachten. Denn: Das Schlechte zu vermeiden, heißt noch lange nicht das Gute zu bekommen oder zu fördern. Ganz oft sehen wir das: Wenn Ausschlusskriterien angewandt werden, entstehen Portfolien mit vielen Großunternehmen im Softwarebereich. Hier sollten sich alle Anleger:innen fragen: „Okay, möchte ich das im Portfolio haben? Reicht das aus, um Gutes zu tun oder möchte ich da auch nochmal andere Kriterien anwenden oder schauen, welche Unternehmen können uns in eine nachhaltigere Zukunft bringen?“.

Zusammengefasst: Ausschlusskriterien sind ein guter erster Schritt. Ich möchte gerne noch etwas hinzufügen, weil es vorher um Art. 8 und Art. 9 ging: Anleger:innen sollten immer bedenken, dass die Taxonomie starr darauf abzielt, das 1,5 Grad Ziel zu erreichen. Das heißt in den Bereichen der Taxonomie ist es dann durchaus zulässig in Kernkraft oder Gas zu investieren. Das sind dementsprechend dann keine Unternehmen, die ausgeschlossen werden, wenn Sie nur nach Art. 8 oder Art. 9 gehen würden. Insofern, wenn ihre Kund:innen wissen, dass sie in diese Branchen nicht investieren wollen, sind Ausschlüsse ein guter erster Schritt, um nachher nicht enttäuscht zu sein.

avesco hat eine proprietäre Nachhaltigkeitsmethode entwickelt, die bei der Analyse sogenannter Hidden Champions-Unternehmen zum Tragen kommt. Wie sieht diese Analyse-Methodik aus?

Richtig, und genau dank dieser Methodik unterscheiden wir uns von vielen anderen. Wir haben eine qualitative Analysemethodik, in der wir nicht nur auf Datenpunkte schauen, sondern diese Datenpunkte in Beziehung setzen. Was häufig nicht verstanden wird – ich könnte dazu mehrstündige Webinare anbieten. Häufig werde ich zum Beispiel gefragt: „Was ist denn für euch eine gute F&E-Quote?“, in Bezug darauf, dass wir insbesondere innovative Unternehmen im Fonds haben wollen. Da habe ich geantwortet: „Das kann ich nicht so beantworten. Ich muss den Kontext verstehen, ich muss verstehen in welchem Geschäftsfeld operiert das Unternehmen, wer sind die Wettbewerber? Was kann das Unternehmen machen, um seine Marktposition zu halten oder zu verbessern?“. Das ist unsere Herangehensweise – nicht 10 Daten abzurufen und zu sagen: „Ja, passt schon“. Sondern uns wirklich tiefgreifend mit den Unternehmen zu beschäftigen.

Auch darum haben wir die Analyse damals auf Grundlage des 3-Säulen-Modells entwickelt. Das bedeutet:

stehen gleichberechtigt nebeneinander.

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Was bedeutet das konkret?

Zum einen haben wir keine ESG-Analyse vor- oder nachgelagert der Finanzanalyse, das wird bei uns alles in einer Phase durchgeprüft. Und zum anderen werden nur jene Unternehmen, die auf jeder Säule performen aufgenommen ins Portfolio. Der ökonomische Bereich umfasst auch eine klassische Bilanzanalyse: Wir schauen uns an, in welchen Märkten muss das Unternehmen bestehen, sind diese Märkte auch attraktiv? Wir wollen ja auch Unternehmen haben, die an die Zukunft denken und innovativ sind. Und im ökologischen oder sozialen Bereich, ganz kurzgefasst: Wir schauen uns die gesamte Wertschöpfungskette an, um zu verstehen: Wo kommen die Rohstoffe her? Was wird benutzt, um die Produkte herzustellen? Wie ist das Lieferkettenmanagement? Was wird im Unternehmen oder in der Produktion mitgedacht, um Energie zu sparen, um Ressourcen zu sparen? Was wird für die Mitarbeitenden gemacht?

Und auch letztendlich: Wenn das Produkt in der Welt ist, wie wirkt es dann? Ich kann ganz tolle Produkte total ressourceneffizient produzieren – aber die brauche ich vielleicht gar nicht für eine nachhaltige Welt. Wie wirkt also das Produkt in der Welt und was passiert nach der Nutzungsphase? Kann es recycelt werden? Wird das schon mitbedacht oder was macht das Unternehmen, um die Produkte zurückzunehmen? Das ist unser Ansatz: Das wir uns das sehr umfassend anschauen und prüfen – eine Analyse nimmt ca. 80 Stunden in Anspruch und wird immer durch 3 Analyst:innen erstellt.

Um zurückzukommen auf mein zuvor genanntes Beispiel der F&E-Quote: Ich kann nicht sagen, die F&E Quote muss immer zweistellig sein – wir betrachten diese im Kontext – was ist branchenüblich? Wie sind die Wettbewerber aufgestellt. Eines unserer Unternehmen hatte bspw. eine erstaunlich geringe F&E-Quote. Auf Nachfrage ergab sich: Das Unternehmen arbeitet eng mit Universitäten zusammen und hatte ein eigenes Spin-Off, das Innovationen verfolgt – dieses war aber nicht als F&E Aufwendungen bilanziert.

Und das ist auch das Wichtigste bei unserer Analyse – mit den Unternehmen zu sprechen, sich die Strategien erklären lassen, auch unangenehme Fragen zu stellen. Dabei bekommt man ein gutes Gefühl darüber, wie Nachhaltigkeit in dem Unternehmen gelebt wird.

Sie sprechen hier die nachgelagerten Calls mit den Unternehmen an, um Ihre Ergebnisse der Analyse zu besprechen, richtig?

Genau, das ist ein ganz wichtiger Punkt bei unserer Methodik. Diese Calls dauern meistens 2 Stunden und sind sehr intensiv. Viele Unternehmen sind uns auch dankbar, wenn wir ihnen Hinweise geben, wie sie ihre Nachhaltigkeit noch verbessern können. An der Stelle ist es auch schön zu sehen: Wer kommt zu diesen Gesprächen und wie sind die Strukturen rund um das Thema Nachhaltigkeit aufgebaut. Aber natürlich müssen wir den Unternehmen in erster Linie erstmal vertrauen, in dem, was sie uns gegenüber offenlegen. Wenn uns ein Unternehmen zum Beispiel sagt, sie überprüfen die Lieferketten, sie führen Audits durch etc., dann müssen wir da zunächst einmal vertrauen, da wir nicht selbst überall vor Ort hingehen können. Ich bin überzeugt, durch das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz wird sich die Datenlage hier auch nochmal verbessern. Die Unternehmen werden dadurch verpflichtet, weiter in die Tiefe zu gehen und klarzustellen, wer ihre Lieferanten sind, woher sie ihre Ressourcen beziehen. Bis jetzt ist es eine Vertrauensbasis, die wir zu den Unternehmen aufgebaut haben. Sie werden jedoch auch bald in der Pflicht sein, zu berichten.

Wie schon erwähnt, zielt der SHC-Fonds darauf ab, die nachhaltigsten Hidden Champions für das Fondsportfolio zu identifizieren. Haben die unterschiedlichen Krisen – etwa die COVID-19-Pandemie, Ukrainekrieg oder Inflation auch Blessuren beim SHC-Fonds hinterlassen?

Wir sind grundsätzlich long-only investiert, das heißt, wenn wir uns einmal entschieden haben für ein Unternehmen und es unsere Methodik erfolgreich durchlaufen hat, dann bleiben wir auch investiert. Wir haben uns 2023 von einem Unternehmen getrennt, das auch in der Gesamtperformance nicht die nötigen Punkte erreicht hat. Ansonsten sind wir bei allen dabeigeblieben. Grundsätzlich sind wir auch überzeugt von allen Unternehmen, die wir geprüft haben und die im Portfolio sind. Jedes Unternehmen hat einfach seinen USP, hat ein bestimmtes Produkt, das es auch in die Zukunft tragen wird, ist entsprechend gut aufgestellt. Wir sind aktuell zu 90 % im DACH-Bereich investiert; Small- und Mid Caps schauen wir uns an. Im letzten Jahr haben wir unsere Portfoliostrategie ein bisschen angepasst, wir wollen uns in den kommenden Jahren auch gesamteuropäisch weiter umschauen. Wir haben die Hidden Champions in der DACH-Region abgegrast, sodass wir gesagt haben, wir öffnen das Portfolio und wollen auch in andere HCs investieren.

Vor allem Deutschland ist bekannt für seine Hidden Champion-Unternehmen. Nach Prof. Hermann Simon, der den Begriff Hidden Champion geprägt hat, finden sich hier 1.573 solcher Unternehmen. Hidden Champions sind allerdings oft nicht börsennotiert – wo findet avesco diese „Perlen“? Und: Gibt es weitere Länder, Themen oder Branchen, die Sie in 2023 besonders im Blick haben?

Perlen würde ich nicht sagen; wir sind keine Perlentaucher, wir sind eher wie Goldschürfer und gehen mit einem Sieb durch den Markt. Wir gehen dabei sehr systematisch vor, gucken uns den gesamten Markt an. Hidden Champions haben ja bestimmte Kriterien, die sie erfüllen müssen. D. h. der Umsatz darf nicht größer als 5 Mrd. € sein, sie sollen im B2B-Bereich tätig sein, sie sollen Weltmarktführer in einer Nische sein. Insofern haben wir uns alle Unternehmen, die diese Kriterien auf dem europäischen Markt erfüllen, angeschaut, systematisch durchdekliniert und geguckt: Welche Unternehmen haben interessante Produkte und könnten einen Mehrwert leisten? Und diese Liste arbeiten wir derzeit ab.

Eine spezielle Branche haben wir also nicht im Blick, weil wir nicht diese Art von Einzelentscheidungen treffen. Wir nehmen uns vielmehr vor, alle europäischen Hidden Champions im Laufe der Zeit zu analysieren und alle nachhaltigen HCs in unser Portfolio aufzunehmen.

Danke für das Gespräch!

Porträt von Dr. Sandra Derissen. Sie hat dunkelbraune lange Haare, trägt einen gelben Pullover und einen dunkelblauen Blazer. Sie lächelt direkt in die Kamera.

Als Volkswirtin und Biologin promovierte Dr. Sandra Derissen im Bereich Umwelt- & Ressourcenökonomie sowie Umweltethik in Wien und Kiel. Anschließend übernahm sie die Auflage eines nachhaltigen Fonds in Zusammenarbeit mit der GLS Bank. Seit 2019 ist sie als Senior-Analystin und Leiterin des Nachhaltigkeitsteams bei avesco. Ihre Kernverantwortung sind die Analyse der Hidden Champions und die Weiterentwicklung der avesco-Nachhaltigkeitsmethode.

Bei dem vorliegenden Interview handelt es sich um eine zusammengefasste Verschriftlichung der IX. Donner & Reuschel Asset Manager Presentation „ESG Art. 8 & 9 – Sinn & Unsinn“. Die Moderation hatte Andreas Franik.