Interview mit Prof. Hermann Simon und Oliver Hagedorn: Hidden Champions und Nachhaltigkeit – ein Match?

Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung (gekürztes Interview): November 2021 auf der Plattform Citywire

Prof. Simon, in Ihrem neuen Buch: „Hidden Champions – Die neuen Spielregeln im chinesischen Jahrhundert“, widmen Sie auch dem Thema Nachhaltigkeit ein Kapitel. Nun gibt es außer Nachhaltigkeit auch noch andere drängende Themen, wie z. B. die Unterbrechung der Lieferketten durch das Pandemiegeschehen und die Digitalisierung. Beobachten Sie daraus entstehende Zielkonflikte und wenn ja welche?

Prof. Simon: Man muss hier unterscheiden zwischen kurz- und langfristigen Problemen. Die Unterbrechung der Lieferketten sowie das Pandemiegeschehen halte ich für vorübergehende Phänomene, während Digitalisierung und Nachhaltigkeit uns in den nächsten Jahrzehnten begleiten dürften. Dabei stehen Zielkonflikte für mich nicht im Vordergrund, denn auch sie dürften eher kurzfristiger Natur sein, sondern es geht eher um die gegenseitige Befruchtung bei der Bewältigung dieser Trends. So sehe ich einen sehr engen Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Nehmen wir das Beispiel Logistik, wo es heute noch gigantische Leerfrachten gibt. Diese Form der Verschwendung kann man mit besserer Planung, d. h. Digitalisierung, wesentlich reduzieren. Gleiches gilt für die Steuerung von energieverbrauchenden Prozessen, für den Verkehr generell und nicht zuletzt für Gebäude. Aber es ist nicht abzustreiten, dass im Sinne des S von ESG, also der sozialen Nachhaltigkeit, Konflikte beim Schutz persönlicher Daten entstehen. Das könnte auch für das autonome Fahren gelten. Nicht alles, das durch Digitalisierung erreicht werden kann, wird mit der Nachhaltigkeit vereinbar sein.

Herr Hagedorn, Ihr Unternehmen avesco analysiert Hidden Champions basierend auf den 3 Säulen der Nachhaltigkeit (Ökonomie, Ökologie und Soziales). Wo glänzen die Hidden Champions und wo gibt es noch Aufholbedarf?

Oliver N. Hagedorn: Das kann man so pauschal nicht sagen – jeder Hidden Champion hat individuelle Stärken und Schwächen. Allerdings glänzen die Hidden Champions in der Regel durch ihre Authentizität und Haltung. Man merkt, sie wollen etwas ändern und ihren Beitrag leisten. Häufig ist das Thema Nachhaltigkeit beim Top-Management aufgehangen und es gibt in jeder Abteilung jemanden, der sich damit befasst.
Außerdem glänzen die Unternehmen bzgl. ihres Produktimpacts: Mit ihren Innovationen führen sie zu einer Veränderung, indem sie neue Technologien in die Mitte der Gesellschaft tragen. Ihr Qualitätsstreben fördert die Langlebigkeit ihrer Produkte und ihre Sparsamkeit wirkt Verschwendung entgegen und mündet in Kreislaufwirtschaft.

Aufholbedarf gibt es im Bereich Governance, denn zumindest kleineren Hidden Champions fehlt es häufig an etablierten Strukturen und Prozessen, die dem deutschen Governance-Kodex entsprechen. Außerdem gibt es auch Aufholbedarf im sozialen Bereich. Die Frauenquote im Mittel- und Top-Management hängt häufig noch hinterher. Wir vermuten, dass das an den Familieneigentümern sowie den häufig eher technischen Industrien liegt. Frauen waren hier lange Zeit außen vor. Sie interessieren sich aber auch weniger für diese Berufe. Das wird sich ändern, umso mehr ökologische und soziale Aspekte in den Unternehmen an Bedeutung gewinnen.

Was denken Sie: Welche Aspekte der Nachhaltigkeit werden bei der Unternehmensführung künftig an Bedeutung gewinnen?

Prof. Simon: Ich glaube, dass die Technologie die zentrale Rolle bei der Bewältigung der Umwelt- und Klimaprobleme spielen muss. Insofern ist zu erwarten, dass technologische Aspekte sehr stark in den Vordergrund treten werden. Nur dort werden wir die Lösung für viele Nachhaltigkeitsprobleme finden.

Oliver N. Hagedorn: Glaubwürdigkeit und Transparenz. Die Unternehmen müssen allen Stakeholdern zeigen, dass sie es ernst meinen mit der holistischen Nachhaltigkeit und nicht nur ein „Alibi-Produkt“ haben, welches nachhaltig ist. Eine besondere Bedeutung haben die Humanressourcen. Performance und Innovation sind eng damit verknüpft. Schon heute gibt es den „War for Talent“. Hidden Champions, die wirklich nachhaltig sind, haben es einfacher Mitarbeitende zu gewinnen, auszubilden, zu fördern und zu halten.

Prof. Simon, welche Unterschiede gibt es zwischen den Hidden Champions der ersten Stunde und den relativ jungen Perlen des Mittelstandes?

Prof. Simon: Es gibt mehrere Unterschiede. Bei den älteren Hidden Champions handelt es sich vor allem um produzierende Unternehmen, die insofern stark von den Nachhaltigkeitsforderungen betroffen sind. Unter den jüngeren Perlen des Mittelstandes finden wir viele Dienstleister und Softwareunternehmen, vor allem im Bereich industrieller Prozesse. Zum einen beachten diese jungen Unternehmen die Nachhaltigkeitserfordernisse von Anfang an stärker, denn sie sind nicht durch historische Festlegungen wie Fabriken oder Investitionen gebunden. Zum anderen sind viele von ihnen in Bereichen tätig, die weniger energie- und ressourcenverbrauchsintensiv sind. Das erleichtert die Situation dieser jungen Firmen. Darüber hinaus gibt es einen Unterschied bei den leitenden Personen. Die Gründer der alten Hidden Champions waren meist keine Akademiker und hatten keine internationale Erfahrung, sondern waren eher Handwerker und bodenständig. Aber mit ihrer Courage und technischen Kompetenz haben sie trotzdem Weltmarktführer geschaffen. In der jungen Generation der Führer hat man es mit weltgewandten Leuten zu tun, die eine akademische Ausbildung und in der Regel auch internationale Erfahrung haben, sei es durch Studium, Praktika oder Arbeit im Ausland. Das sind echte Weltbürger, die sich in der Globalisierung leichter tun als die ältere Generation. Möglicherweise ist damit eine größere kulturelle Offenheit verbunden, auch für neuere Themen wie Diversität, Integration etc. Ich denke, dass das schon etwas mit dem Alter korreliert.

Prof. Simon, wer treibt aus Ihrer Erfahrung das Thema Nachhaltigkeit bei den börsennotierten Hidden Champions. Sind es die Eigentümerfamilien, der Markt oder kommen die Impulse mehr aus der Belegschaft und dem Management?

Prof. Simon: In vielen Fällen wird das Thema sehr stark von den Eigentümerfamilien getrieben. Ich würde sogar sagen, dass auffällig viele dieser Firmen ein starkes Nachhaltigkeitsbewusstsein haben. Vielleicht ist das eine Ausdehnung der traditionellen langfristigen Orientierung. Man denkt in diesen Unternehmen eher in Generationen als in Quartalen, und dieses längerfristige Denken wirkt sich auch förderlich auf die Nachhaltigkeitsorientierung aus. Ich erwarte außerdem eine zunehmende Antriebskraft von Seiten der Investoren. Lippenbekenntnisse und Verkündigungen gibt es diesbezüglich schon zahlreich. Ich erinnere nur an Blackrock oder die Äußerungen des Business Roundtable in den USA im Hinblick auf das Stakeholder- vs. Shareholder-Konzept. Impulse aus der Belegschaft kommen insbesondere in Bezug auf soziale Belange wie Unternehmenskultur oder Arbeitsregelungen, z. B. zum Thema Home Office. Der Markt spielt keine so große Rolle. Vom Markt her entscheidet vor allem die Ökonomie. Ist ein nachhaltiges Produkt relativ zum Wert nicht teurer oder idealerweise billiger als ein traditionelles und weniger nachhaltiges? Das entscheidet sich am Markt, der insofern als solcher keine Nachhaltigkeitsethik hat.

Herr Hagedorn, wie reagieren Hidden Champions auf Anfragen Ihres Hauses bzgl. einer internen Analyse? Und wie lange verbleiben Portfoliounternehmen durchschnittlich in Ihrem Fonds?

Oliver N. Hagedorn: Insgesamt sehr offen und positiv. 90 Prozent der Unternehmen antwortet innerhalb einer Woche. Top-Management und Investor Relations wissen um die Bedeutung von Nachhaltigkeit, entsprechend sind unsere Hidden Champions gut aufgestellt und können ökologische und soziale Kennzahlen meistens fix liefern. Ich muss aber auch sagen, dass die Unternehmen, die wir in Betracht ziehen, i.d.R. einen strategischen Nachhaltigkeitsvorteil haben. Sie beschäftigen sich von innen heraus schon lange mit dem Thema. Nachhaltigkeit ist für sie Opportunität und Profit und selten noch Cost. Das zeigt sich auch daran, dass sie sich über den Dialog mit uns freuen. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass ihre Nachhaltigkeitsberichte tatsächlich komplett gelesen werden. Außerdem sind sie begeistert, dass sie mit jemanden auf Augenhöhe diskutieren können und sich die Erarbeitung insgesamt gelohnt hat.
Zur Verweildauer: Wir sind grundsätzlich langfristig investiert. Unternehmen werden nur deinvestiert, wenn es unauflösliche Kontroversen gibt oder sich ihre Nachhaltigkeitsleistung rapide verschlechtert hat. Wir monitoren das fortlaufend und führen alle 2 Jahre eine Folgebewertung durch.

Prof. Simon, Sie beschäftigen sich seit mehr als 30 Jahren mit den sogenannten versteckten Weltmarktführern. Was fasziniert Sie nach wie vor an der Materie?

Prof. Simon: Zum einen fasziniert mich, dass ich immer wieder neue, beeindruckende Hidden Champions entdecke. Ich habe gerade das neue Buch „Hidden Champions: Die neuen Spielregeln im chinesischen Jahrhundert“ geschrieben. Dort findet man in den Kapiteln über Innovation, über Digitalisierung, über Nachhaltigkeit und über Ecosystems sehr schöne Fallstudien zu überraschenden neuen Ideen und deren erfolgreicher Realisierung. Beispiele sind DeepL, die beste Übersetzungsmaschine der Welt aus Köln, neue Flugzeuge wie der Volocopter, Lilium oder HY4, was für ein Wasserstoffflugzeug steht, das gerade in Stuttgart entwickelt wird. Im Kapitel zur Nachhaltigkeit finden wir Beispiele wie den Ersatz von Baumwollfasern durch Fasern aus Holz, neue Verpackungsmethoden mit kompostierbaren Rohstoffen, Recyclingprozessen und Ähnliches. Das ist immer wieder sehr faszinierend. In meiner 30-jährigen Beschäftigung mit dieser Gruppe von Unternehmen habe ich nie die Nase voll gehabt oder das Thema als langweilig empfunden.

Herr Hagedorn, wodurch sind Sie erstmalig auf den Gedanken gekommen, die Hidden Champions mit dem Thema Nachhaltigkeit zu kombinieren?

Oliver N. Hagedorn: Ein Unternehmer diskutierte mit mir den Erwerb eines Unternehmens, das auf die Produktion von Biodiesel spezialisiert war. Er fragte, ob das ein nachhaltiges Geschäftsmodell sei. Dieser Impuls führte dazu, dass ich mich erstmals intensiv mit Nachhaltigkeit beschäftigt habe. Es folgte 2011 eine Studienarbeit an der TUM und wir entwickelten eine eigene Methode, um die Nachhaltigkeitsleistung des Unternehmens zu bewerten. Nachdem das Projekt abgeschlossen war, stellte sich die Frage, was tun mit dem neuen Wissen. Da erinnerte ich mich an Prof. Simons Forschung zu kaum bekannten, mittelständischen Weltmarktführern und das legendäre Buch, das seither in vielen Sprachen erschien und noch immer hochaktuell ist. Die Idee war geboren, diese Unternehmen auf Ihre Nachhaltigkeit hin zu überprüfen und über einen Fonds investierbar zu machen.

Welcher Hidden Champion beeindruckt Sie im Kontext einer ganzheitlichen Nachhaltigkeit also ökonomisch, ökologisch und sozial besonders?

Prof. Simon: Hier kann man eine ganze Reihe von Firmen nennen. Ich nehme als Beispiel die Firma Voss aus dem Bergischen Land, ein Hidden Champion für Kfz-Fluid-Leitungssysteme mit 5.100 Mitarbeitern. Der Nachhaltigkeitsbericht der Voss Gruppe ist sehr vollständig und in jeder Hinsicht instruktiv. Es werden nicht nur Energie- und Ressourcenverbrauch, sondern auch Aspekte wie Compliance, Unfallraten, Arbeitssicherheit, Altersstruktur, Anteile weiblicher Mitarbeiter, Ausbildungsaktivitäten etc. umfassend dargestellt. Das ist wirklich ein Vorbild für nachhaltige Unternehmensführung bei den Hidden Champions.

Oliver N. Hagedorn: Das wird Sie überraschen, Geberit. Der Hidden Champion arbeitet seit langer Zeit an seiner Nachhaltigkeitsperformance. Der ökologische Productimpac t ist enorm, Wassersparen ist das oberste Gebot bei allen Produkten und Dienstleistungen. Die Arbeitgeberperformance ist hervorragend und auch die Wertschöpfungskette. Die Abfallentsorgung wurde durch Geberit solange perfektioniert, bis lediglich Wasser und Metalle als „Abfälle“ angefallen sind, die sich teils vollständig aufbereiten und recyclen lassen.
Wenn es speziell um das Innovations-Potenzial geht, würde ich den österreichischen Hidden Champion Lenzing nennen wollen. Deren methodisches Verfahren, Textilfasern aus Holz zu gewinnen, wird der Baumwolle langfristig den Rang ablaufen.